Ein Interview von Christopher Fröch
Aufgewachsen ist Mahir, mittlerweile 35 Jahre alt, in İzmır in der Türkei. Dort engagierte sich Mahir politisch, dort lebt seine Familie, dort war er zuhause – bis er vor mehr als fünf Jahren flüchten musste. Der türkische Staat warf Mahir vor, angeblich Mitglied einer terroristischen Vereinigung zu sein. Er wurde verhaftet und angeklagt. Mahir verließ fluchtartig das Land. Seitdem war er nicht mehr in seiner Heimat. Wir haben mit Mahir, der nun in Graz lebt, darüber gesprochen, was Heimat für ihn bedeutet.
VORNEWEG: Mahir, bevor wir über deine Beweggründe sprechen, warum du deine Heimat verlassen hast – was heißt Heimat für dich?
Mahir: Heimat, das ist für mich ein Ort, an dem man lacht, weint, liebt, Sex hat, trauert. Daheim bin ich dort, wo ich meine Familie habe, wo ich mich sicher und geborgen fühle. Für mich ist Heimat kein Nationalbegriff, sondern ein menschlicher, emotionaler. Ich bin in İzmır in einem Bezirk mit vielen verschiedenen linken Organisationen, Vereinen und Parteien aufgewachsen. Meine Freunde, meine Familie, meine Genossen und Genossinnen, mit denen ich so viel erlebt habe – das ist Heimat für mich.
VORNEWEG: …und Graz ist für dich?
Mahir: Sollte ich jemals wieder zurück in die Türkei dürfen, werde ich zurückgehen. Graz, das Erlebte hier und all die Leute, mit denen ich tief verbunden bin, werde ich aber immer als zweite Heimat ansehen. Ich habe die Türkei damals sehr schnell und ohne große Pläne verlassen. Ich kann mich noch gut erinnern: Als ich von daheim weg ging, gab mir meine Mutter noch den Ersatzschlüssel für das Haus mit. Meine Mutter und meine Freunde haben geweint.
VORNEWEG: Warum bist du vor mehr als fünf Jahren aus der Türkei weggegangen?
Mahir: In den letzten Jahren und Jahrzehnten hat sich vieles in der Türkei verändert. Vor allem die politischen Auseinandersetzungen sind härter geworden. Linke Organisationen wurden verboten und verfolgt, manche mussten in den Untergrund gehen. Im Gegensatz dazu haben nationale, reaktionäre und fundamental-islamistische Bewegungen immer mehr Platz eingeräumt bekommen. Sie vereinnahmen immer größere Teile des sozialen, politischen und öffentlichen Raums für sich und gehen auch mit Gewalt gegen politisch Andersdenkende vor. Da schaut der Staat zu. Gegen Linke greift er aber hart durch. Durch das Verbot vieler linker Organisationen konnte die Polizei gegen uns willkürlich vorgehen.
VORNEWEG: Das klingt nicht so, als wäre die Türkei eine angenehme Heimat für fortschrittliche Menschen?
Mahir: Das stimmt nur halb. Wie ich schon gesagt habe, ist Heimat für mich vor allem verbunden mit Emotionen. Zum Beispiel fühle ich vieles gleichzeitig, wenn ich an den 1. Mai in İzmır denke. Es sind positive Gefühle, die ich in dieser Intensität hier in Österreich nicht spüren kann. Auch wenn es oftmals zu Auseinandersetzungen zwischen uns und der Polizei oder reaktionären Gruppierungen gekommen ist – wir waren nicht unterzukriegen. Ich habe mich in İzmır trotz der Konfrontationen immer sicher gefühlt. Ich wusste, wie ich mich verteidigen kann. Das haben wir auch gemacht. Hier in Graz ist das anders. Ich kann nicht so gut Deutsch sprechen, deswegen möchte ich nicht in eine Diskussion mit Rechten geraten. Ich bin unsicherer und könnte ihnen nicht jenen Widerstand bieten, den sie verdient haben.
VORNEWEG: Also ist das Leben als Kommunist in Österreich anders als in İzmır?
Mahir: Ja und nein. Hier ist vieles ruhiger und nicht so aggressiv. Ich denke dabei zum Beispiel an den 1. Mai. In İzmır haben wir oft Probleme mit der Polizei gehabt. Hier in Graz geht die Polizei einfach so mit, ohne Helme. Ein anderes Beispiel ist die Akzeptanz linker und kommunistischer Politik in Österreich und vor allem in Graz. Ich habe bei der letzten Gemeinderatswahl in Graz im Volkshaus auf der Wahlfeier an der Bar geholfen. Als feststand, dass die KPÖ mit mehr als 20 Prozent zweitstärkste Partei ist, konnte ich es zuerst gar nicht glauben und hatte dann ein wenig Angst, dass das Ergebnis annulliert wird oder man die Partei ganz verbietet, wie ich das in der Türkei oft erlebt habe. Das ist aber zum Glück nicht passiert und war eine sehr positive Erfahrung, die ich gemacht habe. Ich sehe viel Gutes in Graz, diese Stadt ist meine zweite Heimat geworden.
VORNEWEG: Am Anfang meintest du, dass du wieder zurückgehen würdest. Du hast mir das Buch „Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist“ von Ece Temelkuran geschenkt. Würdest du die Türkei noch als die Heimat ansehen, die sie einmal war? Immerhin gab es tiefgreifende Veränderungen in den letzten Jahren.
Mahir: Ich weiß, dass die Türkei, dass İzmır heute nicht mehr so ist, wie es damals war, als ich fortging. Allein dadurch würde ich vieles anders sehen. Im Nachhinein denke ich mir oft, es wäre vielleicht besser gewesen, einfach zu bleiben und die Strafe abzusitzen. Dann wäre ich heute schon wieder frei. Trotzdem kann mir das Gefühl, dass İzmır meine Heimat ist, niemals von den reaktionären und fundamentalen Rechten genommen werden. Die Linke in der Türkei hat eine stolze Tradition. BildhauerInnen, MalerInnen, SchriftstellerInnen – viele waren und sind MarxistInnen und haben die öffentliche Wahrnehmung der Türkei inner- und außerhalb des Landes geprägt. Ich denke, dass sich auch die Heimat verändern darf. Im Kern, oder besser im Herzen, bleibt das Gefühl, was und wo Heimat ist, jedoch immer gleich.