Die Corona-Krise und ihre Auswirkungen auf die Wirtschaft machen nicht nur den Arbeiter:innen, Schüler:innen und Student:innen in Österreich zu schaffen. Um zu sehen, wie es jungen Menschen in anderen, noch schwerer betroffenen europäischen Ländern geht, haben wir mit kommunistischen Jugendorganisationen aus Italien, Spanien und Großbritannien gesprochen. Unsere Gespräche mit Lorenzo von der italienischen Fronte della Gioventù Comunista (FGC), Aritz von der spanischen Unión de Juventudes Comunistas (UJCE) und Pierre von der britischen Young Communist League (YCL) zeigen, dass es trotz der jeweiligen nationalen Unterschiede eine Gemeinsamkeit gibt: Überall wird die Krise auf die arbeitenden Bevölkerung und besonders auf junge Menschen abgewälzt.
Vom Regen in die Traufe
Krisen sind im kapitalistischen Wirtschaftssystem ein wiederkehrendes Phänomen. Dass dabei die Jugend besonders leidtragend ist wohl ebenso, denn schon nach der Finanzkrise 2008 waren es die arbeitenden Menschen und die Jugend, die durch die Finger geschaut haben. Gemeinsam mit der seit den Neunzigern andauernden Offensive der Herrschenden hinterließ die letzte Krise die Jugendlichen Europas in der denkbar schlechtesten Lage, um mit einer globalen Pandemie umzugehen. Viele spanische und italienische Jugendliche finden seit der Krise vor nunmehr zwölf Jahren noch immer keine Arbeit. In Italien gab es bereits vor der Corona-Krise zwei Millionen junge Menschen, die weder eine Ausbildung absolvierten, noch eine Arbeitsstelle hatten. Diejenigen, die einen Job haben, verdienen ihr Geld als Essenslieferanten, im Catering oder in der Tourismusindustrie – alles immer nur mit befristeten Verträgen.
Auch auf das Gesundheitssystem können sich junge Menschen nicht verlassen. In den letzten zehn Jahren wurde der National Health Service (NHS) in Großbritannien konsequent kaputtgespart. In Italien, wo das öffentliche Gesundheitssystem gar erst in den 1970ern erkämpft wurde, werden seit den 1990ern immer größere Bereiche privatisiert. Damit nicht genug: Auch verbleibende öffentliche Gesundheitseinrichtungen werden zunehmend der Profitlogik unterworfen. Das führt dazu, dass nur diejenigen Bereiche bestehen bleiben, die immer überfüllt sind, während anderswo ganze Krankenhäuser geschlossen werden, weil sie nicht genug Auslastung haben. Darunter war auch ein auf Lungenkrankheiten spezialisiertes Krankenhaus in Rom, welches während dieser Pandemie worden wäre. So wurden in den letzten 20 Jahren 37 Millionen Euro „eingespart“ – sprich: gekürzt. Wo es 1981 noch 530.000 Betten in italienischen Krankenhäusern gab, waren es 2020 nur mehr 191.000. Randnotiz: Auch in Österreich traten alle im Parlament vertretenen Parteien in den letzten Jahren immer wieder für einen Bettenabbau ein. In Italien gibt es mittlerweile selbst bei den Krankenwägen Engpässe. All das führte dazu, dass Ärzt:innen während der Corona-Krise entscheiden mussten, wer noch ein Bett und damit Behandlung und eine Überlebenschance bekommt – und wer nicht. Manche schafften es durch den Mangel an Krankenwägen nicht einmal mehr ins Krankenhaus. Sie verstarben zuhause, weil niemand kam, um sie zu holen.
Abwarten und Champagner trinken
Das schient die Devise aller europäischen Regierungen gewesen zu sein. Wie auch die unsrige reagierten die Regierungen Italiens, Spaniens und Großbritanniens nur zögerlich auf die Ausbreitung des Virus, obwohl diese eigentlich vorhersehbar war. Das hat einen Grund: Sie warteten ab, wie sich das Virus auf die Wirtschaft auswirken würde und versuchten alles, um den Profitinteressen der Kapitalisten nicht zu schaden. Allen voran Großbritannien setzte anfangs sogar noch auf eine Strategie der Herdenimmunität. Dabei sollte die Bevölkerung „durchseucht“ und somit der Tod tausender Menschen in Kauf genommen werden. Damit nicht genug: Wie sich später herausstellte, hielt sich nicht einmal der für diese Strategie verantwortliche Regierungsberater – der libertäre Dominic Cummings – an die von der Regierung eingeführten Mobilitätsbeschränkungen, die eine allzu hohe Todesrate verhindern hätten sollen.
Allerorts bedeutete „Lockdown“ Ausgangsbeschränkungen, Schließungen von Lokalen, Schulen, Universitäten – nicht aber die Schließung von Fabriken, Lagerhäusern, etc. Nach den ersten Lockdown-Maßnahmen in der stark betroffenen italienischen Stadt Bergamo veröffentlichte die örtliche Industriellenvereinigung sogar noch einen Werbespot mit dem Slogan „Bergamo is running“, um internationalen Investoren zu versichern, es wäre alles in Ordnung. Unterdessen hatten sich bereits tausende mit dem Virus infiziert. Erst zwei Wochen nach dem Lockdown für alle anderen Bereiche wurden auch die Fabriken in der Region geschlossen – weil die Arbeiter:innen für den Schutz ihrer Gesundheit in Streik getreten waren. Es dauerte jedoch nicht lange, bis die Regierung den Industriellen Schlupflöcher bot, durch die sie doch wieder aufsperren konnten. Anfang April, als der Lockdown eigentlich am restriktivsten sein sollte, ging immer noch mehr als die Hälfte der Menschen zur Arbeit.
Friss oder stirb
In den südeuropäischen Ländern, in denen sich die arbeitende Jugend schon vor der aktuellen Krise in einer katastrophalen Lage befand, waren es junge Arbeiter:innen, die als Erstes ihre Jobs verloren. Besonders betroffen war dabei die Tourismusbranche: Die befristeten Verträge der jungen Arbeiter:innen wurden für die neue Saison einfach nicht verlängert. Viele waren aber ohnehin ohne Arbeitsvertrag angestellt – es reichte also ein Anruf vom Chef, um sie loszuwerden. Allein im April gab es in Italien 300.000 neue Arbeitslose, viele von ihnen Jugendliche. Der geringe gewerkschaftliche Organisierungsgrad unter den Jungen tat sein Übriges, um den „Arbeitgebern“ ein leichtes Spiel zu machen. Junge Menschen vor die Tür zu setzen ist immerhin bei weitem günstiger, da sich der seit Jahren stattfindende Arbeitsrechteabbau in ihren Verträgen widerspiegelt. Hierfür wurden auch staatlich verfügte Kündigungsstopps ignoriert, oder, wie etwa in Spanien, schlichtweg gewartet, bis diese ausliefen. Junge Menschen sollen, wenn es nach den Herrschenden geht, gegen ältere Menschen ausgespielt werden.Dieses Kunststück ist der herrschenden Klasse in Italien schon im Zuge der letzten Krise gelungen, indem man den Jungen erzählte, die Alten müssten verzichten, damit sie etwas haben können – und am Ende alle verloren, außer die Kapitalistenklasse. Das darf kein zweites Mal passieren.
Wer in Italien glücklich genug war, seinen Job zu behalten, sah sich oft gezwungen, im Gegenzug schlechtere Arbeitsbedingungen anzunehmen, denn einen neuen Job zu finden war schon vor der Krise schwierig und ist jetzt quasi unmöglich. Wie auch in Österreich wird bei den staatlichen Kurzarbeitsregelungen kräftig betrogen – der Staat zahlt den Lohn für die scheinbar reduzierten Stunden, während die Arbeiter:innen weiterhin Vollzeit arbeiten. Das zeigt sich auch in den für den italienischen Tourismus so wichtigen Strandbädern: Diese sind oft in Privatbesitz und riefen laut um staatliche Unterstützung, als ein Ausbleiben der sonnenhungrigen Tourist:innen aus dem Norden absehbar wurde. Diese Unterstützung bekamen sie auch. Dennoch erklärten die Eigentümer:innen den nach dem gelockerten Lockdown an ihre angestammten Sommerarbeitsplätze zurückkehrenden jungen Italiener:innen, die Zeiten wären für sie so hart wie für alle – daher müssten sie nun mit einem Monatslohn von 600 Euro für 12 Stunden Arbeit täglich auskommen, oder sich eben wo anders etwas suchen. Während es für Groß- und Kleinbetriebe staatliche Hilfen gibt, hat der italienische Staat für die Arbeitslosen aber nichts übrig. Dann lieber doch der Hungerlohn, denken sich nun viele – das ist die Freiheit des Kapitalismus.
Von solchen Zuständen sind auch junge Arbeitende in Großbritannien nicht gefeit. Auch wenn dort viele noch ihre Jobs haben, stehen ihnen schlechtere Arbeitsbedingungen genauso in Aussicht. Nach dem Auslaufen der staatlichen Hilfsmaßnahmen müssen auch viele von ihnen damit rechnen, vor die Tür gesetzt zu werden.
Augen zu und durch
Ähnlich vom bürgerlichen Staat allein gelassen wie junge Arbeitende sahen sich auch Schüler:innen und Student:innen. Investitionen in jetzt dringend benötigte technische Infrastruktur hat man in allen Ländern seit Jahren aufgeschoben. Mit der Planung für den Umstieg auf Distance-Learning wurde ebenso stiefmütterlich verfahren: Die Umstellung kam plötzlich, wurde planlos durchgeführt und ließ viele Kinder und Jugendliche sowie ihre Eltern im Regen stehen. In Italien musste das Bildungsministerium selbst nach wenigen Wochen eingestehen, dass ein Fünftel der Schüler:innen nicht an den Online-Unterrichtseinheiten teilnehmen konnte. Das ist wenig überraschend, da es in allen Ländern viele Familien gibt, in denen sich alle einen Computer teilen müssen. In Italien ist es gar ein Drittel der Bevölkerung, die überhaupt keinen Computer im Haus haben. In Spanien gibt es in manchen ländlichen Regionen gleich gar keinen Internetanschluss. Ganz davon abgesehen, dass die Lehrkräfte auch nicht darauf vorbereitet und teilweise nicht in der Lage waren, ihre Inhalte überhaupt in dieser Form zu vermitteln, ist es bei praktischen Lehrberufen ohnehin ein Ding der Unmöglichkeit. Hinzu kommt, dass meistens die Schulen vor den Betrieben geschlossen wurden und die Eltern somit vor der Aufgabe standen, irgendwie Betreuung für ihre jüngeren Kinder zu organisieren. In manchen Familien hätten das die Großeltern übernehmen können, aber die kommen dafür ja in einer Pandemie, die besonders für ältere Menschen gefährlich ist, nicht in Frage. Schon vorher bestehende Bildungsungleichheiten wurden durch die Krise im Endeffekt also noch verschlimmert.
In Großbritannien wurden die staatlich organisierten Prüfungen ausgesetzt und stattdessen die Lehrkräfte beauftragt, die Jahresnoten zu vergeben. In öffentlichen Schulen ist das kein Problem, aber in den privaten Eliteschulen, die sich direkt mit dem Geld der reichen Eltern finanzieren, stellt sich die Frage, inwieweit Lehrer:innen hier noch neutral entscheiden oder ob es sich nicht schlichtweg um gekaufte Noten handelt. War endlich der Lockdown von den Schulen auch auf nicht-essentielle Betriebe ausgeweitet, dauerte es nicht lange, bis die britische Regierung die Schüler:innen wieder in die Schulen schicken wollte – immerhin musste die Betreuung ja irgendwie organisiert werden, damit die Eltern wieder an ihre Arbeitsplätze zurückgebracht werden konnten. Sowohl die Lehrer:innengewerkschaft als auch Umfragen unter den Eltern sprachen sich aber dagegen aus – das Gesundheitsrisiko war noch zu hoch.
In Italien hingegen wird es gleich den Direktor:innen selbst überlassen, wie die Rückkehr in die Schule mit dem neuen Semester auszusehen hat. Dieser Rückkehr stehen die Schüler:innen skeptisch entgegen. Schulgebäude in Italien sind oft alt und baufällig. Die Hälfte ist nicht einmal konform mit den Sicherheitsvorschriften zum Erdbebenschutz. Schon vor Jahren machten unsere Genoss:innen von der Fronte della Giuventù Communista (FGC) darauf aufmerksam, dass es dringend Maßnahmen braucht, um die Schulen zumindest in ihrer Baustruktur abzusichern. Aber natürlich hat keine der vergangenen Regierungen in Italien eine solche Investition in die Hand genommen. Nicht nur die Gebäude sind unsicher – Schulen und Universitäten sind auch noch viel zu klein. Klassenstärken von 30 Schüler:innen, 500 Studierende in einem Hörsaal, Kolleg:innen, die am Boden hocken, auf den Fensterbänken sitzen – Abstand zu halten ist da unmöglich. Aber selbst, wenn es mehr Platz gäbe, gibt es einfach nicht genug Lehrer:innen und Professor:innen. Seit fünf Jahren schon wurden keine neuen mehr eingestellt. Sichere Schulen – nicht voll mit Überwachungskameras, sondern einsturzsicher, das fordern die Genoss:innen vor Ort.
Die Lehren aus der Krise
Welche Lehren haben sie also aus der Krise bis jetzt gezogen und welche Lösungen gäbe es für sie? Offensichtlich wurde einmal mehr: Es ist die Arbeiter:innenklasse, die die Gesellschaft am Laufen hält, und nicht die Kapitalistenklasse. Es waren und sind die Pfleger:innen, die Supermarkt-Angestellten, die LKW-Fahrer:innen und viele mehr, die uns durch diese Krise bringen – nicht die Bänker, Spekulanten und Aktionäre! Die Bourgeoisie will um jeden Preis ihre Profite, auch auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung und ihrer Gesundheit, das hat sich wieder einmal gezeigt. Ein gutes Beispiel dafür ist das italienische Gesundheitssystem, alle Maßnahmen sind hier nur temporär: temporäre Krankenhäuser, temporäre zusätzliche Pfleger:innen und Ärzt:innen. Das Wenige, das getan wurde, wurde auch schnell wieder zurückgefahren. Dabei gibt selbst der wissenschaftliche Berater:innenstab der Regierung zu, dass man dadurch nicht auf das Wiederaufflammen des Virus vorbereitet ist. Es ist symptomatisch: Im Kapitalismus werden immer nur soweit Maßnahmen getroffen, um die aktuelle Krise so managen zu können, dass sie den Grundfesten des Systems nicht gefährlich wird. In diesem System aber ein gut ausgebautes, öffentliches Gesundheitssystem aufzubauen, das die Gesundheit aller Menschen garantiert und sich nicht dem Diktat des Markes unterwerfen muss, ist hingegen unmöglich.
Auch von der Europäischen Union ist nichts zu erwarten: Die arbeitende Bevölkerung erhielt keine Hilfe. Alle Schritte, die von der EU gesetzt wurden, das ganze Geld das locker gemacht wurde, dient nur zur Absicherung der Profite der Großkonzerne und Finanzmonopole. Der ansonsten heilige Stabilitätspakt wurde vorübergehend gebrochen, aber nicht, um Geld ins Sozialsystem zu investieren, sondern um das Geld großzügig an Industrielle und Monopolisten zu verteilen. Unterdessen versuchten sich die verschiedenen Mitgliedsstaaten alle auf Kosten der anderen ein größeres Stück vom Kuchen zu holen. Wie es anders gehen könnte, zeigt Kuba. Der sozialistische Inselstaat, der seit Jahrzehnten unter völkerrechtswidriger Blockade durch die USA steht und daher selbst kaum die nötige Ausrüstung hatte, um das Virus zu bekämpfen, entsandte zwei medizinische Brigaden in die stark betroffenen italienischen Städte Cremona und Turin. Und das, ohne sich eine Gegenleistung dafür zu erwarten – nur aus Solidarität um der Solidarität Willen. Das allein zeigt schon, was der Sozialismus praktisch für die arbeitenden Menschen tun kann – allen widrigen Umständen zum Trotz.
Die „neue Normalität“ ist nicht das, was die Leute wollen, das ist klar. Es braucht jetzt Selbstorganisation der Arbeiter:innenklasse. Britische Gewerkschaften konnten bereits kleinere Siege erringen – besseren Schutz für das Gesundheitspersonal zum Beispiel. Man muss aber mit den richtigen Gewerkschaften zusammenarbeiten. In Italien haben sich die großen Gewerkschaften dafür ausgesprochen, mit den Konzernen sozialpartnerschaftlich zusammenzuarbeiten. Nur so könne man aus der Krise kommen, sagen sie. Die Arbeitenden werden aber schon jetzt von oben angegriffen, sie werden gefeuert, ihre Löhne gekürzt, ihre Stunden verlängert. Der Klassenkampf findet also statt, egal, ob man ihn führen will, oder nicht. Die italienischen Genoss:innen der FGC arbeiten daher mit klassenkämpferischen Gewerkschaften zusammen, auch wenn diese kleiner sind.
Bei Selbstorganisation und Gewerkschaftsarbeit allein kann es aber nicht bleiben. Es braucht eine Avantgarde, damit die Arbeiter:innenklasse nicht nur immer auf Angriffe reagieren, sondern auch selbst in Aktion treten kann. Wo die Arbeiter:innenklasse ansetzen könnte, zeigt sich schon jetzt. In Großbritannien sahen sich die regierenden konservativen Tories gezwungen, die Eisenbahnen quasi zu verstaatlichen, obwohl sie das im letzten Wahlkampf noch entschieden abgelehnt hatten. Nachdem niemand mehr den Zug nahm, das Eisenbahnsystem aber zu wichtig ist, um einfach dichtzumachen, übernahm der Staat die Löhne der Arbeiter:innen. Im aktuellen System ist das natürlich nur ein weiteres Beispiel dafür, wie private Verluste auf die Öffentlichkeit abgewälzt werden – unter anderen Vorzeichen wäre das aber ein wichtiger Schritt. Auch im italienischen Gesundheitssystem könnten die privatisierten Bereiche wieder vergesellschaftet und so die Kapazität des Systems schnell ausgeweitet werden. Langfristig muss auch die Ausbildung zu medizinischen Berufen geöffnet werden, damit es mehr Ärzt:innen und Pfleger:innen gibt. Daran haben die aktuell Regierenden aber kein Interesse. Lorenzo hat die Einstellung der bürgerlichen Regierungen, wenn es darum geht, irgendetwas für die arbeitenden Menschen zu tun, in unserem Gespräch ganz gut zusammengefasst: No Profits? Not our problem.
Was erwartet uns nach der Pandemie?
Selbst bürgerliche ÖkonomInnen prognostizieren heute, dass aus der Corona-Krise eine generelle wirtschaftliche Krise erwachsen wird – doch wie wird diese aussehen und wie wird die herrschende Klasse damit umgehen? Ein Blick in die Geschichte könnte darüber Aufschluss geben. Schauen wir uns also an, wie die herrschende Klasse in der Vergangenheit auf Pandemien reagiert hat. Und welche Pandemie würde sich dafür besser eignen als die größte, die Europa jemals heimgesucht hat – die Pest.
Die Pest, oder wie sie von den Menschen damals anfangs genannt wurde, der „schwarze Tod“, oder einfach „das große Sterben“, war eine Pandemie, die sich, ursprünglich aus Asien kommend, ab 1347 am europäischen Kontinent ausbreitete und hier bis 1352 wütete. Das Ausmaß der Pandemie damals war natürlich viel größer als heute – man geht heute davon aus, dass die Krankheit damals ein Drittel der europäischen Bevölkerung dahinraffte. Auch das wirtschaftliche System war zu dieser Zeit ein anderes: Feudalismus und nicht Kapitalismus. Eine parallele bleibt jedoch: Der Klassenkampf. „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“, schreiben Marx und Engels ja bekanntlich schon im kommunistischen Manifest. Wie sah also der Klassenkampf nach der Pest aus?
Wie auch heute gab es damals eine kleine Minderheit, die von der Arbeit der großen Mehrheit lebte. Obwohl natürlich alle von der Krankheit betroffen waren, bedeutete der enorme Verlust an menschlichem Leben eines: einen gewaltigen Rückgang von Arbeitskräften. Es war aber nicht nur, oder zumindest nicht direkt, der Arbeitskräftemangel, der für die herrschende Klasse zum Problem wurde. Viel mehr war es die verbesserte Verhandlungsposition der verbleibenden Arbeitenden und das damit etwas zu Ungunsten der Herrschenden verschobene Machtgleichgewicht.
Hatten sie überlebt, stellte sich für die Mitglieder der herrschenden Klasse bei der Fortsetzung ihrer Lebensführung nun einige Probleme. Wer für sein Bauvorhaben vorher noch auf eine hungrige, sich gegenseitig in ihren Lohnforderungen unterbietende Masse Tagelöhner zurückgreifen konnte, sah sich nun damit konfrontiert, den verbleibenden Bauarbeitern ein gutes Angebot machen zu müssen. Immerhin konnte ihnen auf der Baustelle nebenan ein besseres winken. Wo sich vorher vielleicht noch sechs Handwerkerfamilien in einem Ort um die Aufträge der lokalen BürgerInnen stritten und gegenseitig unterboten, waren es plötzlich nur mehr vier. Die verbleibenden konnten daher höhere Preise für ihre Erzeugnisse verlangen. Junge Männer und Frauen aus armen bäuerlichen Familien mussten vorher noch, wenn sie keine Aussicht hatten, den Hof zu erben, und nicht die Mittel hatten, anderswo eine eigene Familie zu gründen, froh sein, überhaupt irgendwo ein Auskommen als Knecht oder Magd zu finden – egal, wie schlecht das Bauernehepaar sie behandelte. Nun konnten sie sich aussuchen, wo und unter welchen Bedingungen sie arbeiteten.
Bäuerlichen Familien generell, um 1300 immerhin etwa 93% der Bevölkerung, waren nun nicht mehr gezwungen, um jeden Preis ein auch noch so kleines und ödes Stück Land ihres angestammten Herrn zu bewirtschaften. Es gab ja nun gleich nebenan freigewordene Güter und einen Herrn, der bereit war, etwas weniger Abgaben zu verlangen, um dafür wenigstens irgendeinen Ertrag von seinem entvölkerten Land einzufahren.
Als Reaktion auf diese Kräfteverschiebung sehen wir überall in Europa die Einführung von Gesetzen, die, wie man heute sagt, „den Arbeitsmarkt regulieren“ sollten. Gestern wie heute bedeutet das, dass der Krise, die ja alle betrifft, durch Maßnahmen begegnet wird, die nur die Arbeitenden treffen. Profitiert haben damals die feudalen Grundherren, das entstehende städtische Bürgertum und Bauernfamilien, die wohlhabend genug waren, um Knechte und Mägde einzustellen. Auf dem Gebiet des heutigen Österreich wurden verschiedene dieser „Wirtschaftsordnungen“ erlassen.
Nehmen wir als Beispiele die 1349 und 1352 für das Land Tirol durch den Markgrafen Ludwig von Brandenburg verfügten Wirtschaftsordnungen. Welche Maßnahmen wurden ergriffen, um der erstarkten arbeitenden Bevölkerung zu begegnen? Wer profitiert von ihnen? Wie wurden sie begründet? Eines zeigt sich hier sofort: Auch damals stellte sich schnell heraus, wer die Gesellschaft am Laufen hielt. Es geht dem Markgrafen in seiner Wirtschaftsordnung um die Handwerker und Arbeiter, die Schmiede, Schneider, Schuster, Taglöhner, das Hausgesinde, die Knechte und die Mägde. Diese hätten einen ungewöhnlichen Lohn gefordert, so der Markgraf. Was also tun, um diesen Forderungen zu begegnen? Ganz einfach: Er verfügte, dass die Löhne auf das Niveau von vor 5 Jahren, vor der Ausbreitung der Pest, eingefroren werden sollten. Wer höheren Lohn verlangte oder bezahlte, sollte mit Geldstrafen belegt werden. Ausgenommen waren davon nur Arbeitskräfte, von denen es im Land nicht genügend gab: Zimmerleute und Maurer. Da es sich hier um eine Reaktion auf gestiegene Löhne handelt, muss das Festsetzen der Löhne auf das Niveau von 1344 eine Lohnminderung dargestellt haben. Gleichzeitig legte der Markgraf fest, dass der arbeitenden Bevölkerung das Verlassen ihres angestammten Gerichts- und Pfarrsprengels unter Strafe verboten war. Sie konnten also nicht einfach das Land mit seinen nun niedrigen Löhnen verlassen und anderswo eine profitablere Anstellung finden. Wiederum gab es auch hier eine Einschränkung. ArbeiterInnen von außerhalb durften das Land auf der Suche nach Arbeit betreten und sich darin frei bewegen – solange sie sich an die Lohnvorschriften hielten.
Wie empfindlich die Lohnkürzung wohl war, zeigt die nächste Bestimmung des Gesetzestextes: Wer zu den festgelegten Löhnen nicht arbeiten wollte, konnte vom örtlichen Richter dazu gezwungen werden. Das neu festgelegte Lohnniveau muss also so niedrig gewesen sein, dass die ArbeiterInnen es möglicherweise vorziehen hätten können, gleich gar nicht zu arbeiten. Eine Sonderregelung gab es noch für die bäuerliche Bevölkerung. Deren Arbeit bildete die Existenzgrundlage der damals herrschenden Klasse, des Feudaladels. Es wurde daher festgelegt, dass bäuerliche Familien ihre Güter, die sie von ihren Grundherren zu verschiedenen Arten der Pacht hatten, nicht verlassen durften. Damit sollte wohl eine drohende Landflucht, ausgelöst durch die gestiegenen Löhne im Handwerks- und Taglohnsektor, verhindert und dem Rittern der Grundherren um potentielle Arbeitskräfte für ihr Land ein Riegel vorgeschoben werden.
Die wirtschaftlichen Beweggründe hinter den Bestimmungen werden aus deren Inhalt ersichtlich – aber wie wurden sie vom Herausgeber des Gesetzes begründet? Zuerst einmal wurde richtig festgestellt, dass das große Gebrechen, das über das Land gekommen war, die gesamte Bevölkerung, adelig oder nicht adelig, bürgerlich oder bäuerlich, reich oder arm, betroffen habe. Dass die deshalb ergriffenen Maßnahmen aber nur die arbeitende Bevölkerung betrafen, wurde damit begründet, dass sie wie bereits erwähnt ungewöhnlichen und unzeitlichen (also unzeitgemäßen) Lohn gefordert hätten. Das würde all denjenigen im Lande, die ArbeiterInnen einstellten, einen verderblichen Schaden bringen. Daher, so der Markgraf, würde er zum Nutzen des Landes und seiner Bewohner dieses Gesetz erlassen.
Obwohl die Pandemie alle im Land betraf, wurden also nur Maßnahmen getroffen, die der arbeitenden Bevölkerung schadeten. Und den Grund dafür nennt uns Markgraf Ludwig überraschend ehrlich selbst: Diejenigen, die ArbeiterInnen einstellten, die „Arbeitgeber“, erlitten wirtschaftlichen Schaden. Wenn der Markgraf also beim Zweck seines Gesetzes von Nutzen für das Land spricht, dann meint er eigentlich Nutzen für die herrschende Klasse. Das kommt uns doch bekannt vor.